In den 30er Jahren war Elisabeth Weisbrodt, 100, eine kleine Unternehmerin im Schatten des Weltreichs der I.G. Farben, der heutigen BASF. Geboren wurde sie, als Kaiser Wilhelm noch Deutschland regierte, der Panama-Kanal eröffnet wurde und China die Republik ausrief. Sie hat viel gesehen. Nur eines nie: die deutsche Hauptstadt Berlin und fremde Länder. Porträt über eine Standfeste die seit fast 80 Jahren im gleichen Haus lebt und trotzdem ihr Glück fand.
Von ferne ist der süßliche Geruch auf der Autobahn zu riechen: die Anilin, wie viele alte Leute noch heute in Rheinland-Pfalz, Deutschland, die nähe Ludwigshafen liegende „Badische Anilin- & Soda-Fabrik AG“ (heute bekannt als BASF) nennen.
Wie futuristische Lichtpfeile einer Mars-Siedlung ragen die Hunderten Schornsteine des 1865 gegründeten BASF-Weltreichs nachts in den Himmel. Globalismus ist für die Pfälzer spätestens seit 1925 kein Fremdwort. Damals hatten die Farbwerke Hoechst AG ihr Vermögen auf die BASF übertragen. Auch Bayer, Agfa, Griesheim Elektron und Weiler-ter-Meer folgten. Die nach dem Zweiten Weltkrieg zerschlagene I.G. Farben AG war entstanden. Der Vorstand umfasste 83 Personen, Carl Bosch war Vorstandsvorsitzender. Das Stammkapital betrug 1,1 Milliarden Reichsmark. 80.000 Menschen standen damals wie heute in Lohn und Brot. 1919 schon hatten die Pfälzer einen Tarifvertrag und einen 8-Stunden-Arbeitstag erstritten.
Die BASF links an der Autobahn liegen lassend, geht es rechts nach Fußgönheim. Bis 1968 hieß der Ort BASF-Siedlung. Dabei ist das Chemieimperium nicht einmal in Sichtweite. Seit 1936 lebt Elisabeth Weisbrodt hier in ihrem Haus.
Sie hat kein Weltreich erschaffen. Und dennoch gehört sie zu jenem Typ Frau, ohne den Deutschland wohl nicht das geworden wäre, was es heute ist. Sie bedient nicht das Bild der Trümmerfrauen die im Nachkriegsdeutschland anpackten. Sie war 1945, als der schreckliche dunkle Krieg zu Ende war, 34 Jahre alt. So alt, wie heute so mancher Leser von kriegsberichterstattung.com ist.
Sie war eine kleine pfälzische Unternehmerin im Schatten des Chemie-Imperiums BASF. Wenn in Deutschland, wie gerne behauptet wird, gut 90 Prozent der Unternehmen Mittelständler sind, und das das Rückgrat Deutschlands sei, ist Weisbrodt Rückgrat.
Dabei war es in den 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts keinesfalls üblich als Frau selbständig zu sein. Doch Weisbrodt eröffnete 1936 einen Textilhandel den sie fast 35 Jahre erfolgreich führte. Noch heute weiß sie, wie viel sie pro Herrenhemd in den 30er Jahren verlangte: 4,85 Mark. Sie war Stammlieferantin für BASF-Mitarbeiter, die für Arbeit und Freizeit Kleidung benötigten. Ihre Kunden waren aber auch Hausfrauen im Wirtschaftswunderdeutschland, die für Häuser und Wohnungen Gardinen, Weißwäsche oder Wollwaren kauften. „Damals wurde ja noch sehr viel gestrickt und gestickt“, erzählt die heute noch gesundheitlich fitte Unternehmerin.
Elisabeth Weisbrodt gehörte zu jener Generation junger unerschrockener emanzipierter Frauen, die nach ihrem robusten Lebensmotto, das sie heute noch Jüngeren gerne mitgibt – „Maul halte und aushalte“ – ihren Weg machte.
Sie war niemals im UnternehmerInnen-Bund. Den einzigen Bund, den sie neben der 1934 geschlossenen Ehe kennen lernte, war der Bund Deutscher Mädel. Wenn heute Politiker immer wieder an die Menschen in Deutschland appellieren sich selbständig zu machen, aus der Not eine Tugend zu machen, sind das Worte die Weisbrodt nur allzu gut kennt. Denn Arbeitslosigkeit und Armut war damals Alltagsbegleiter.
Als sie 1911 geboren wurde, waren Pferdegespanne alltäglich und das Leben in Deutschland bestand aus Mangel und Entbehrung. Weltweit fanden ungeheure Umbrüche statt. Kaiser Wilhelm hatte nur noch wenige Jahre das Deutsche Reiche zu regieren, der Panamakanal war eröffnet worden, der Erste Weltkrieg stand bevor, und Chinas inoffiziell-offiziell regierende Kaiserin-Witwe Cixi hatte abdanken müssen. 47 Jahre lang hatte sie den Kaiserhof in Schach gehalten, ehe das Kaisertum nach 2.500 Jahren unterging.
Doch davon dürfte die kleine Elisabeth nicht allzu viel mitbekommen haben, daheim, in Frankenstein. Noch heute hat sie ihren mit Getreide gefüllten Stoffkranz, den ihr die Mutter vor 95 Jahren gab. Sie musste ihn immer auf den Kopf legen. Obendrauf kam ein großer Weidenkorb. So wie afrikanische Frauen noch heute die Ernte heimholen, musste sie als Kind Sommers wie Winters die Berge rauf in Rheinland-Pfalz oder aufs Feld. Es sind traumatische Erinnerungen.
Sie musste Holz schleppen fürs Heizen und Futter fürs Vieh. „Das, was ich damals in Wald und Feld machen musste, würde ja heut noch als Kinderarbeit angezeigt“, sagt sie leise. Es ist kein Unterton in der festen Stimme, der Mitleid erhofft.
Aber sie sagt es, damit das nicht vergessen wird, wo und wie Deutschland war. Aufgewachsen ist Elisabeth Weisbrodt mit ihrer 1885 geborenen strengen Mutter Anna. Der Vater Philipp Laubscher war im Ersten Weltkrieg 1915 gefallen. „Am 5. Mai“ – das weiß sie noch heute. Elisabeth musste in der Volksschule immer die Beste sein. „Wenn ich das nicht schaffte, oh je“, stöhnt sie. Schläge setzte es wohl öfters mal. Wie gut sie war, das merkte sie im Klassenzimmer an der Sitzordnung: Die Guten saßen vorne, die Schlechten hinten. Auch gab es drei Klassen pro Raum und nur einen Lehrer – also Parallelunterricht. Elisabeth wurde als Beste „unter den Mädchen und Jungs“, wie sie betont, in der 7. Klasse aus der Schule entlassen. Sie war gerade 13 Jahre.
Erst mit ihrem eigenen Unternehmen hörte die zuvor jahrelang erlebte Not auf. Mit drei bis vier Mitarbeitern erwirtschaftete sie schon kurz nachdem ihr Handel eröffnete worden war, gut 3000 Mark Umsatz im Monat – bei 1000 Mark Gewinn. Das Lesen von Bilanzen hatte Weisbrodt als Filialleiterin „beim genossenschaftlich roten Konsum-Handel gelernt“. Deshalb trat sie später auch dem Bund Deutscher Mädel bei, um die „rote Vergangenheit“ hinter sich zu lassen. Außerdem hatte sie eine kaufmännische Lehre in den 20er Jahren absolviert:
„Arbeitslosigkeit und Lehrstellenmangel – das gab es auch damals schon“, erzählt sie. „Es war ja mitten in der Weimarer Republik“. Eineinhalb Jahre habe sie damals vergeblich einen Ausbildungsplatz gesucht. Erst 1927 habe sie im Nachbarort Neustadt eine Anstellung als kaufmännischer Lehrling erhalten. Im Winter war das Büro, da Geld fehlte, häufig so kalt, dass die Fenster zugefroren waren. Weisbrodt war ständig erkältet.
Es waren harte Zeiten und in vielen Dingen gab es durchaus Parallelen zu Deutschland im 21. Jahrhundert. „Immer mehr Firmen brachen zusammen“ erzählt sie, während sie die Tischdecke gerade zurrt. Auch ihrem Chef sei es so ergangen – 24 Monate Lohn schuldete er ihr.
Ohne die damals üblichen familiären Bande hätte sie das wirtschaftlich kaum überlebt. Während heute jeder 20-Jährige seine eigene Bude will, wohnten damals mehrere Generationen unter einem Dach. In Weisbrodts Fall war das Ende der 20er Jahre ihr späterer Ehemann Peter und ihre Mutter. Zu dritt teilten sie sich eine 3-Zimmer Wohnung im pfälzischen Frankenstein. 33 Mark steuerte jeden Monat ihre Mutter bei – Rente des gefallenen Mannes.
Dass Elisabeth Weisbrodt dann, 1936, in ihr eigenes Haus ziehen konnte – wieder zusammen mit Mann und Mutter – das hatte sie der I.G. Farben zu verdanken. Indirekt „aber auch Hitler, da die gesamtwirtschaftliche Lage in den ersten Jahren tatsächlich unter ihm besser wurde“. Der Konzern förderte für Mitarbeiter in breitem Stil den Hausbau mit zinsgünstigen Darlehen. Da Weisbrodts Mann als Feinmechaniker für die I.G. Farben arbeitete, und für U-Boote, die die Deutschen im Zweiten Weltkrieg benötigten, Isolationsmaterial herstellte, gewährte man ihm und seiner Frau 7.900 Mark Kredit. Ihr Mann musste auch nie in den Krieg, da er UK, „Unabkömmlich“, gestellt wurde.
Die eigenen vier Wände erwiesen sich als richtige Entscheidung. Denn das Haus beherbergte nur im hinteren Teil die Wohnräume, vorne waren Arbeits- und Verkaufsräume. Noch heute lebt Weisbrodt, zusammen mit Teilen der Familie, in diesem Haus – seit bald 80 Jahren. In diesem Lokalkosmos spielte sich ihr Leben ab. Hier erzog sie drei Söhne, Bernd, Lothar und Heinz, denen sie ein Studium ermöglichte. Im Ausland war sie nur einmal – drei Tage in Italien. Nicht einmal die Hauptstadt Berlin hat sie in all den Jahren besucht.
Ihr Leben war Disziplin. Das hielt sie selbst beim Auto durch: bis 1953 musste es immer die Marke Lloyd sein (die dann Insolvenz ging), später ein VW – immer dasselbe Modell, dieselbe Farbe. Die Kundschaft ihres kleinen Modegeschäftes sollte nicht denken, „da habe eine zu viel Geld“, erzählt Elisabeth Weisbrodt kriegsberichterstattung.com. Jedes Auto konnte man damals in vier Jahren abschreiben.
Wie viele alte Leute, weiß sie, was Hunger ist. Noch heute baut sie Gemüse an. Die Bohnen entstammen Bohnensamen, den sie noch von ihrer Mutter aus dem Ersten Weltkrieg hat. Seit circa 1920, also bald seit 90 Jahren, nimmt sie immer die gleichen Samen der gleichen Bohnen. Jedes Jahr aufs Neue trocknet sie diese und baut im nächsten Frühjahr im eigenen Garten wieder Bohnen an. Dass es mittlerweile bessere Bohnen gibt, ohne die für Hausfrauen unangenehmen Fäden am Anfang und Ende der Bohnenhüllen, interessiert Elisabeth Weisbrodt nicht. Auch seit bald 80 Jahren baut sie Kartoffeln im eigenen Garten an, ebenso Gurken und Tomaten. „Man kann ja nie wissen“, meint sie. Im Krieg habe der eigene Garten sie und ihren Mann gerettet. Schon im Ersten Weltkrieg hatte sie mit ihrer Mutter eine Ziege, die im Haus in Frankenthal mit gewohnt habe.
Noch heute sind in ihrem Haus Petroleumlampen an den Wänden. Man kann ja nie wissen. Die Familie, die Generationen zusammenhalten, das versucht sie bis heute. Jeden Samstag backt sie 19 Dampfnudeln – für Enkel, Urenkel oder die eigenen Kinder.
Als Weisbrodt 1969 in „Rente“ ging, wollte niemand aus ihrer Familie den Textilhandel übernehmen, der der Familie erstmals seit Generationen etwas Wohlstand und die Basis zu glücklicheren Tagen legte. Heute erinnert nur noch die vordere Hausfront, der Geschäftseingang, an jene Zeit des familiären Unternehmertums.
Wo einst Verkaufsräume waren, ist heute Wohnraum. Wie sie da so für das erbetene Foto steht, ists, als wäre die Zeit stehen geblieben. Für eine Sekunde, denkt man, könnte das hier auch wieder die junge anpackende Frau sein, die hier voll Tatendrang den Schritt in die Selbständigkeit wagte – damals, 1936. Am 22. Oktober 2012 feiert Elisabeth Weisbrodt ihren 101. Geburtstag. Sie weiß nicht, ob sie darüber glücklich sein soll oder nicht: „Das ist doch alles nicht mehr meine Zeit“, sagt sie lächeln, auch staunend, während sie ihr Haus erstmals im Internet über Google Earth von oben sieht. Erlebt habe sie wahrlich genug. Auch reisen möchte sie nicht mehr. Nur noch nach Karlsruhe wollte sie die vergangenen Jahre öfters mal: Da lebte eine ihrer ehemaligen Mitarbeiterinnen. Sie ist mit 108 im Krankenhaus gestorben.
Elisabeth selbst träumt davon im Bett in ihrem Haus sterben zu dürfen. In dem Bett, das 1936 ein Schreiner für sie und ihren Mann gebaut hatte. „Da schlafe ich bis heute so himmlisch drin“, sagt Weisbrodt. Sie lächelt und schaut zum Himmel. „In diesem Bett sterben zu dürfen, das wär ne große Gnad“. Und auch das sagt sie: Seitdem ihr Mann vor über zehn Jahren starb, vermisse sie einfach auch Nähe. Die Nähe, die sie immer so schön bei ihrem Mann verspürt habe. Aber klagen, das wolle sie nicht. Und auch sterben wolle sie nun doch nocht nicht. Jetzt im August 2012. „Es ist alles so schön hier draußen, wenn die Sonne scheint und alles blüht“, sagt Elisabeth Weisbrodt. „Das möchte ich schon noch etwas genießen.“
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