In einem Gespräch mit dem Handelsblatt-Herausgeber Garbor Steingart erklärt Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), dass sie den Einsatz der Deutschen Bundeswehr in Mali scheinheilig empfinde.
So erklärte Merkel auf die Frage, was sie an der aktuellen internationalen Politik scheinheilig finde: „Scheinheilig bezog sich auf die ganze, auch auf unsere Politik der vergangenen Jahre. Wir trainieren malische Soldaten, und anschließend hoffen wir, dass Frankreich denen schon eine gute Ausrüstung gibt.“ (1)
Doch genau dieses sei „doch nicht hundert Prozent ehrlich“. Deshalb müsse auch Deutschland dafür sorgen, „dass diese Länder eine vernünftige Sicherheitsstruktur“ hätten. Nur so könne man helfen, dass diese „ihre Entwicklung voranbringen“ könnten.
Merkel ist sicher, dass Konfliktlösungen in Krisenherden „immer einen integrierten Ansatz“ bräuchten. Beispielsweise seien es in Afghanistan die Deutschen gewesen, welche diesen Ansatz vorangetrieben hätten:
„Sicherheitsstruktur, Polizeiaufbau, Entwicklungshilfe, politische Strukturen aufbauen, wo immer notwendig, dann auch militärisch eingreifen“.
Die neue europäische Verteidigungspolitik verfolge genau diesen vernetzten Ansatz.
Doch kritisiert Merkel auch die NATO. Hier habe man bislang „nur von Fall zu Fall“ einen integrierten vernetzten Ansatz gehabt. Dies liege natürlich auch daran, dass die NATO in sich keine Entwicklungshilfeorganisation sei. Jetzt sei aber die Zeit, sich diesen vernetzten Ansätzen zu stellen. Das Militärische sei „immer nur Ultima Ratio“.
Libyen ist ein besonders drastisches Beispiel wie die NATO und der Westen versagt haben
Als besonders drastische Verfehlung der NATO kann der Angriffskrieg des westlichen Bündnisses gegen Libyen im Jahr 2011 gesehen werden. Mit über 50.000 Bomben brachten westliche Soldaten dort libysche Soldaten und Bürger um, verstümmelten Tausende.
Zudem gab die NATO militärische und organisatorische Schützenhilfe, um den im Westen ungeliebten libyschen Diktator Muammar Muhammad Abdassalam Abu Minyar al-Gaddafi (arabisch معمر القذافي Muʿammar al-Qaddhāfī) zu ermorden. (1)
Für den Krieg gegen Libyen zeigten insbesondere Frankreich verantwortlich, Spanien, Großbritannien, die USA, Norwegen, Italien, Polen oder die baltischen Staaten Lettland und Estland. Deutschland hielt sich zumindest mit Bombenangriffen aus der Luft zurück, gab aber militärisch-organisatorische Hilfe, um Gaddafi zu eliminieren (er wurde erstochen und verblutete ohne medizinische Hilfe auf einem Jeep der vom Westen bezeichneten „Rebellen“).
Völkerrechtlich ist das ein klarer Verstoß gegen UNO-Statuten. Zudem fühlten sich Russland und China zu Recht vom Westen angelogen und hintergangen. Denn der Westen, die NATO, hatten immer nur davon gesprochen, sie wollten in Libyen eine „Flugverbotszone“ durchsetzen.
Von einem gewaltigen militärischen Schlag gegen die nicht genehme libysche Staatsdiktatur insgesamt war niemals die Rede. Auch nicht davon, dass diverse Politiker im Westen Gaddafi ermorden lassen wollten.
Der Westen verteidigte sein Tun damit, er habe einen undemokratisch, willkürlich und brutal agierenden Diktator von der Macht entfernt. Ähnlich hatte der Westen im Irak argumentiert – unter dem damaligen US-Präsidenten George W. Bush, der sich heute das Maul über den aktuellen US-Präsidenten Donald Trump zerreißt.
Erreicht wurde in Libyen wie im Irak nicht viel: Heute ist Libyen ein gefallener Staat, welcher von Terrorgruppen, Milizen und der Mafia dominiert und teils auch regiert wird. Ähnlich sieht es seit bald 15 Jahren im Irak aus.
Mit dem Fall Gaddafis öffnete der Westen zudem selbst die Büchse der Pandora. Denn seitdem kommen Hunderttausende Flüchtlinge aus Afrika über die libysche Grenze in die EU.
(Video-Quelle: „Seeschlacht um Flüchtlinge Libysche Küstenwache gegen Schlepper und NGO’s“, von: GibsonVienna, auf: YouTube vom 01.07.2017).
Gaddafi hatte zuvor immer betont, wenn Libyen falle, würden Millionen afrikanischer Flüchtlinge über die libysche Grenze in die EU strömen. Diese Aussagen wurden von westlichen EU-Politikern, auch den USA, jahrelang mit einem süffisanten Lächeln quittiert. Heute wissen wir:
Gaddafi hatte mit seiner Aussagen zwar nicht ganz Recht, dennoch wagen Hunderttauende Afrikaner nun über die libysche Grenze den lebensgefährlichen Weg übers Mittelmeer in die Europäische Union.
Ein Kommentator (Guido F. Gebauer) schrieb denn auch auf der taz folgenden (von uns gekürzten) Kommentar am 20.05.2015:
„Innerhalb Libyens sind 400000 Menschen auf der Flucht. Zusätzlich sind aber zwei von sechs Millionen Libyern außer Landes geflohen. Die Anzahl der Gesamtflüchtlinge entspräche 38 Millionen hochgerechnet auf die Bundesrepublik Deutschland. Dies die wahre Katastrophe, über die auch die TAZ noch niemals berichtete.
Hinter dieser Katastrophe verbirgt sich die Zerstörung einer gesamten Gesellschaft, die noch vor wenigen Jahren die wohlhabendste Bevölkerung ganz Afrikas war, im HDI vor Südafrika.
Verursacht haben diese Katastrophe politische Kräfte und Menschen, denen es seither an jeder Reue und Einsicht fehlt. Sie haben ein ganzes Volk in den Untergang getrieben – ein libyscher Freund sagt resigniert ‚Libyen gibt es nicht mehr…“ (3f)
Diese Aussagen sind so nicht ganz aus der Luft gegriffen, was auch die Jahresberichte der Internationalen Organisation für Flüchtlinge (IOM) belegen. Sie schrieb beispielsweise 2015:
„Griechenland war mit Abstand der wichtigste Einstiegspunkt für undokumentierte Migranten und Asylsuchende nach Europa im Jahr 2015. Unregelmäßige Ankünfte nach Griechenland übertrafen im Jahr 2015 die 900.000 und waren elfmal höher als 2014 (77.163), wobei über 93 Prozent der Migranten über das Mittelmeer ankamen (853.650). Syrer machten im Jahr 2015 über 50 Prozent der unregelmäßigen Ankünfte in Griechenland aus. Gemeinsam machten Syrer, Afghanen und Iraker über 88 Prozent aller unregelmäßigen Ankünfte in dem Land aus“. (4)
Die meisten Ankünfte in Griechenland dürften über die Türkei erfolgt sein. Nicht so in Italien: Hier kommen die meisten Flüchtlinge über die libysche Grenze an. So führt die Internationale Organisation für Flüchtlinge in ihrem Jahresbericht 2015 weiter aus:
„Im Jahr 2015 kamen insgesamt 153.842 Menschen auf dem Seeweg nach Italien, ein Rückgang gegenüber den 170.000 im Jahr 2014. Dennoch ist es ein großer Anstieg im Vergleich zu den 42.925 Ankünften, welche die nationalen Behörden 2013 zählten. Die meisten Migranten die 2015 auf dem Seeweg nach Italien kamen, waren von Eritrea (39.162) und Nigeria (22.237), gefolgt von Somalia (12.433), Sudan (8.932), Gambia (8.454), der Syrischen Arabischen Republik (7.448) und Mali (5.307). Das Groß der Mehrheit machte die Seeüberquerung von Libyen (ungefähr 80 bis 90%), während der Rest von Ägypten (meistens Ägypter und Syrer) kam.“ (4f)
Nimmt man diese Zahlen als Basis, kann angenommen werden, dass seit 2011 weit über 300.000 Menschen alleine über die libysche Grenze in die EU geflüchtet sind.
Allerdings ist das nur ein Bruchteil der weltweit über 20 Millionen Flüchtlinge, die alleine für 2015 gezählt wurden.
So schreibt die Internationale Organisation für Flüchtlinge in ihrem Jahresbericht 2015 ebenso:
„Ende 2015 beherbergte die Welt 21,3 Millionen Flüchtlinge. Darunter waren 16,1 Millionen unter UNHCR-Mandat. Die Zahl der Flüchtlinge hat seit Ende 2011 einen Anstieg von 55% erreicht, vor allem auf Grund des zivilen Konflikts in der Syrischen Arabischen Republik. Allein im Jahr 2015 wurden etwa 1,8 Millionen Menschen Flüchtlinge, im Vergleich zu 1,2 Millionen im Jahr 2014.“ (4ff)
Die Türkei und Pakistan seien mit die wichtigsten Flüchtlings-Hosting-Länder weltweit (in absoluten Zahlen), mit, 2,5 Millionen und 1,6 Millionen Flüchtlingen, die bis Ende 2015 in den Ländern registriert gewesen seien. Es folgten damals der Libanon (Aufnahme von 1,1 Millionen Flüchtlingen), die Islamischen Republik Iran (979.400) und Äthiopien (736.100).
Selbst Somalia sei mit über einer Millionen aufgenommener Flüchtlingen, welche im Jahr 2015 dort gezählt worden seien, ein wichtiges Flüchtlingsland. Während Ägypten 2015 insgesamt 117.600 Flüchtlinge zähle und der Irak 244.600 Flüchtlinge. (4ff)
Im Interview mit dem Handelsblatt erwähnt Bundeskanzlerin Merkel auch diverse Gespräche, welche sie mit dem nigerianischen Staatspräsidenten geführt habe. Darin habe dieser beklagt, dass er vom Westen keine nachhaltige Hilfe erhalte, operativ gegen die islamische Terrororganisation Boko Haram vorzugehen.
Einzelnachweise
(1) „ANGELA MERKEL IM GESPRÄCH MIT GABOR STEINGART: ‚Geschichte wiederholt sich nicht – und wenn dann nur als Farce‘ in: Handelsblatt, Wochenendausgabe vom 25./26./27.08.2017, Seite 54 bis 59.
(2) „Muammar al-Gaddafi„, in: wikipedia.de.
(3) (3f) „Flüchtlinge in Libyen. Die vergessene Katastrophe„, von MIRCO KEILBERTH in taz vom 19. 5. 2015, Kommentarspalte.
(4) (4f) (4ff) „GLOBAL MIGRATION TRENDS„, von: International Organization for Migration (IOM) und des Global Migration Data Analytics Center (GMDAC) im Jahresbericht für 2015, Seiten 12, 8.
(5) „Boko Haram„, in: Wikipedia.de.
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